Modewort «immersiv»

Eintauchen oder komplett abtauchen?
Bilder von Klimt auf den Wänden für den Blogartikel "Modewort Immersiv"
Bild: Lisa Rigendinger

Das Modewort «immersiv» schmückt heute so manche Veranstaltung. Doch das Fremdwort ist alles andere als bekannt. Einfache Sprache verwendet wenig Fremdwörter. Wer sie eindeutscht oder erklärt, macht es den Lesenden einfacher. Denn bekannte Wörter fördern das Verstehen.

Eine immersive Geschichte – wie bitte?

Unterwegs im 33er-Bus in Zürich. Eine Fensterwerbung springt mir ins Auge. «Klimts Kuss» steht da in Grossbuchstaben. Darüber lese ich «Eine immersive Geschichte». Immer was? Das Wort sagt mir nichts. Es geht um eine Schau zum Leben und Werk von Gustav Klimt, dem österreichischen Jugendstil-Maler. Kennen Sie das Wort «immersiv»?

Das externe Hirn befragen

Ich habe mich schlau gemacht: Das Wort «immersiv» leitet sich ab von «Immersion». Das bedeutet Eintauchen. Verwendet wird es zum Beispiel für Computerspiele. Bei einem immersiven Spiel taucht man derart ein, dass man Teil der fiktiven Welt wird. Das Lexikon liefert folgende Synonyme: eindringlich, fesselnd, alle Sinne umfassend.

Ich habe eine kleine Umfrage gemacht und Freund:innen gefragt. Kennst du das Wort? Das waren ihre Antworten.

  • «Noch nie gehört.»
  • «Meinst du invasiv – falsch geschrieben?»
  • «Wie bitte: Immer Sie? Immer tief?»
  • «Ich kann mit dem Wort nichts anfangen.»

Alle Befragten interessieren sich für Kultur und Sprache und lesen viel. Ihre Antworten zeigen: Das Wort «immersiv» ist alles andere als bekannt.

Bekannte Wörter fördern das Verstehen

Für die Verständlichkeit ist es entscheidend, ob ein Wort vertraut ist. Wer geläufige Wörter verwendet, spricht auch das Herz an: «Ich bin gemeint. Die sprechen meine Sprache.»

Auch wenn das Wort nicht bekannt ist: Die Anzeige für die Ausstellung funktioniert. Weil da Klimt draufsteht und das Bild vom Kuss das Auge anzieht.

Achtung: ansteckend

Das Wort ist offenbar ansteckend. Auch Museen schmücken ihre Veranstaltungen neuerdings mit dem Zusatz «immersiv». So warb die Fondation Beyeler für einen Ball: «Die Künstler Maurizio Cattelan und Pierpaolo Ferrari wurden eingeladen, im Museum eine immersive Welt aus Toiletpaper› zu erschaffen.» Was für Bilder erzeugt das in den Köpfen des breiten Publikums?

Streichen, ersetzen oder erklären

Im Umgang mit Fach- und Fremdwörtern gibt es drei Wege für verständlichere Texte:

  • Streichen: Weg damit, wenn sich der Sinn nicht verfälscht.
  • Ersetzen: durch ein deutsches Wort.
  • Erklären: bei der ersten Verwendung.

Bei Adjektiven gibt es noch eine Lösung. Sie ist die schönste: Beschreiben Sie, was die Besucher:innen erwartet. Am besten mit Verben, zum Beispiel so: Tauchen Sie ein in die Welt von Klimt.

Pixel auf der Wand

Ich habe mir «Klimts Kuss» in der Lichthalle Maag angeschaut. Der Flyer verheisst «Eine 360°-Grad-Erlebnisreise durch das Leben und die Werke des österreichischen Jugendstilpioniers». 40 Projektoren bespielen den Raum mit Bildern von Klimt und mit Fotos seiner Zeit. Musik von Wagner, Mahler und anderen begleitet die Animation.

Klimts Frauenporträts erscheinen überlebensgross an der Wand. Gemaltes Jugendstil-Dekor löst sich auf und schwimmt über die Wände und den Boden. Das Spiel der Farben fasziniert.

Die Videoprojektion serviert die Bilder von Klimt so schnell, dass ich nicht verweilen kann. Ständig erscheinen neue Bilder. Muster und Bildelemente schieben sich ineinander.

Das Original gewinnt

Für mich entfaltet sich die Kraft eines Gemäldes vor dem Original. Ich will die Farbe als Material sehen. Wenn ich Pixel erleben will, gehe ich in den wundervollen Pixelwald von Pipilotti Rist im Kunsthaus Zürich. Auch bei der Sprache überzeugt mich das Original mehr als das Modewort «immersiv».

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